Rede von Prof. Dr. Peter Brandt
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Ottmann,
sehr geehrte Frau stellvertretende Landrätin,
werte Damen und Herren Abgeordnete,
meine Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler!
Ich danke Ihnen für die Einladung zu dieser Feierstunde und deren würdige
Gestaltung anlässtich der Enthüllung der Willy-Brandt-Büste, durch die das
Andenken meines Vaters geehrt werden soll.
Ich bin gerne gekommen und freue mich insbesondere darüber, die Künstlerin,
Frau Hupperschwiller, und die Spenderfamilie Kohnen hier zu treffen.
Trotzdem ist mir die Zusage, heute die Festansprache zu halten, nicht ganz
leicht gefallen, wie man vielleicht annehmen könnte, gerade weil ich von Beruf
Historiker und damit auf das Bemühen um wissenschaftliche Objektivität beim
Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart von Amts wegen verpflichtet bin.
Das bedeutet: Abstand nehmen, kritische Distanz herstellen, besonders zu dem,
was uns nahe liegt. Aber, ist das überhaupt möglich, wenn das Verhältnis so
eng ist wie zwischen Vater und Sohn?
Nicht besser steht es mit der anderen denkbaren Auflösung meines Dilemmas:
der Beschränkung auf das Subjektive. Aufgrund meines Berufs und auch als
politisch engagierter Mensch bin ich überhaupt nicht imstande, Willy Brandt
rein subjektiv zu betrachten. Ich bin anders geprägt. Als ältester Sohn mit einer
solchen überragenden Gestalt konfrontiert zu sein: in einem liebevollen, aber
nicht ganz einfachen Verhältnis zweier manchmal etwas sperrigen Menschen,
war übrigens nicht immer das reine Vergnügen, ungeachtet des auch mensch-
lich hohen Ranges meines Vaters. Um zu illustrieren, was ich damit meine, folgende Erlebnisschilderung:
Während des Sommers 1962 – ich war 13 Jahre alt – kam mein Vater eines
Abends nach Hause, wartete bis meine Mutter schlafen gegangen war und
richtete dann das Wort an mich: „Es kann sein, dass ich längere Zeit nicht nach
Hause kommen kann, dann bist Du der Mann und musst Deiner Mutter in allem
helfen, mein Junge!“ Er machte noch einige unbestimmte Andeutungen über
die mögliche Zuspitzung der seit dreieinhalb Jahren andauernden Berlin-Krise,
in deren Verlauf am 13. August 1961 die Mauer gebaut worden war, trug das
Ganze aber so ernst und nachdrücklich vor, dass neugierige Fragen ausgeschlossen
waren. Selbstverständlich versprach ich, mich des Vertrauens würdig zu erweisen.
Was war der Hintergrund? Der Mauerbau hatte aus der Sicht des Ostblocks
den Unruhestand West-Berlin nicht beseitigt und statt der gewünschten Anpassungsbereitschaft den Selbstbehauptungswillen in Westberlin gestärkt. In einer
Phase, da die Sowjetunion, auch durch die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen auf Kuba, das internationale Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten
verändern wollte, lag die Idee nahe, unter irgendeinem Vorwand Westberlin, den militärisch kaum zu verteidigenden und zugleich prestigebeladenen Stützpunkt
der Westalliierten, handstreichartig einzunehmen, bevor die Schutzmacht USA reagieren könnte und sich dann sogleich – auf der Grundlage der neuen Verhältnisse – zu „Verhandlungen“ bereit zu erklären.
Jedenfalls war mein Vater in das operative Hauptquartier der Westalliierten,
das Olympiastadion, gerufen worden, wo man ihn angesichts massiver sowjetischer
Truppenkonzentration um Berlin mit der Möglichkeit eines Großangriffs vertraut machte. Seine Idee bestand nun darin, dass man unter allen Umständen einen – noch so kleinen – Teil Westberlins halten müsse, bis es zu Gegenmaßnahmen, etwa den Zusammentritt des UNO-Sicherheitsrates, komme. Es war daran gedacht, einen Bezirk um das Rathaus mit Hilfe der Alliierten, der Bereitschaftspolizei, der Freiwilligen Polizeireserve und Freiwilligen aus der Bevölkerung bis zum Letzten zu verteidigen. Alles das – es klingt heute etwas
abenteuerlich – habe ich natürlich erst später erfahren. Willy Brandt ist 1976 in seinem Buch „Begegnungen und Einsichten“ kurz darauf eingegangen. Mein Vater wollte mir vermitteln (wofiir die geschilderte Episode nur ein Beispiel ist), dass es in manchen Situationen Wichtigeres gibt, als die eigene Haut zu retten. Der Aggression und der Diktatur muss man widerstehen. Solange man selbst handlungsfähig ist, darf man das eigene Schicksal nicht blind in andere Hände legen. Aber auch das: Man soll niemals aufgeben, wenn die Umstände auch noch so ungünstig scheinen, denn oft nehmen die Dinge im letzten Moment eine unvorhergesehene Wendung. Um diesen Glaubenssatz zu
belegen, berichtete mein Vater immer wieder von einer Fülle persönlicher Erlebnisse.
Natürlich ging es zwischen uns nicht immer ganz so ernst zu. Mein Vater war ein begeisterter Witzeerzähler. Seine Lieblingswitze kannten alle Freunde längst und mehr noch die Familienangehörigen. Sie amüsierten sich statt über die Witze bei jedem erneuten Zuhören mehr über den Erzähler, dessen Freude jedes Mal unverändert groß war. Zu den Vorhaben, die Willy nicht mehr verwirklichen konnte, gehörte eine Sammlung seiner Lieblingswitze, die er – beinahe hätte ich gesagt: allen Ernstes – noch veröffentlichen wollte. Die gibt es übrigens inzwischen als Buch.
Ich will auch bei dieser Feier nicht so tun, als wäre ich mit dem Politiker Willy
Brandt immer einverstanden gewesen. Unsere phasenweisen und gegenstandsspezifischen
Meinungsverschiedenheiten haben aber, das will ich unterstreichen, den gegenseitigen Respekt und das Einvernehmen nicht gemindert, und sie liegen wohl auch außerhalb dessen, was uns heute gemeinsam hier zusammenfuhrt. Dazu gehört, dass Willi Brandt andere Auffassungen in einem Maße respektierte, wie ich sie selten erlebt habe – übrigens bezogen auf beide Seiten der Links-Rechts-Achse, und die echte Überzeugung junger Menschen achtete er nicht weniger als die durch die Lebenserfahrung geläuterte, aber oft genug auch in die Resignation verbogene Auffassung der Eltern.
Willy Brandt ist bei seinem Tod im Herbst 1992 in Deutschland so einhellig, durch nahezu das gesamte politische Spektrum hindurch, als ein deutscher Staatsmann von historischem Rang gewürdigt worden, dass man fast hätte vergessen können, dass er, teilweise noch bis in die 80er Jahre hinein, zu den umstrittensten Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegspolitik gehörte. Bei den Auseinandersetzungen um seine Person, bei den Angriffen gegen ihn, spielte sein Lebensweg mit dem norwegischen Exil und dem aktiven Widerstand gegen die Hitler-Diktatur eine große Rolle. Dieser Lebensweg war untypisch
für die Generation derjenigen, die die Machtübernahme der nationalsozialistischen Bewegung 1933 als Jugendliche oder junge Erwachsene erlebt hatten. Willy Brandt hat für seine Altersgenossen, die Angehörigen der Kriegsteilnehmergeneration, viel Verständnis aufgebracht. Als Unbelasteter und Widerstandskämpfer den moralischen Zeigefinger zu erheben, war ihm zuwider, allgemeine Schuldzuweisungen gegen die Deutschen wies er zurück, zumal gegen die Jüngeren, wenngleich er es für die Aufgabe der deutschen Politiker hielt, dem Volk auch unangenehme Wahrheiten zu sagen – wie die, dass es eine gemeinsame, geschichtlich bedingte Verantwortung der Deutschen für die NS-Verbrechen gibt. Man müsse diese bewusst annehmen und zum Motiv einer Politik des Friedens und der Verständigung machen.
ln die klassische Arbeiterbewegung hineingeboren, blieb die soziale Demokratie bzw. der demokratische Sozialismus, das waren für ihn nur zwei Seiten einer Medaille, fur Willy Brandt gedankliche Orientierung oder organisatorischer Zusammenhang. Die Zugehörigkeit zu einer sozialistischen Splittergruppe in den 30er und frühen 40er Jahren änderte daran nichts. Wer den Staatsmann vom Parteipolitiker trennen will, geht in die Irre – unabhängig davon,wie man zur heutigen SPD steht.
Nach seinem Rücktritt von dem Amt des Bundeskanzlers 1974 war Willy Brandt noch über dreizehn Jahre Vorsitzender der SPD und sechszehn Jahre Präsident der Sozialistischen Internationale, des Zusammenschlusses der sozialdemokratischen bzw. demokratisch sozialistischen Parteien. Seine Präsidentschaft war maßgeblich gekennzeichnet von der Öffnung dieser Internationale, die bis dahin im Wesentlichen ein europäisches Gremium gewesen war, für verwandte Organisationen in der dritten Welt. Sie wurde eine wichtige
Clearing-Stelle für Konflikte in der Welt, z. B. bei der Vorbereitung des zwischenzeitlich
recht ermutigenden, leider fast hoffnungslosen Friedensprozesses im Nahen Osten. Ich erinnere an das Treffen Willy Brandts 1979 mit dem Palästinenserführer Arafat und Bruno Kreisky, dem langjährigen Österreichischen Bundeskanzler und engen Freund seit den 40er Jahren.
So wenig wie den Staatsmann vom Parteiführer darf man also den deutschen und internationalen Politiker trennen. Ja, Willy Brandt war ein Deutscher Patriot, er selbst sprach vom ,demokratischen Patriotismus‘ . Gerade in der dunkelsten Epoche Deutschlands, 1933 – 1945, hielt er entschieden an der Existenz eines anderen, besseren Deutschland fest. Diesem galt seine Arbeit, seine Leidenschaft. Oft zitierte er August Bebels – des langjährigen Führers der deutschen Arbeiterbewegung, der in demselben Jahr 1913 starb, in dem Willy Brandt geboren wurde – Ausspruch, die Sozialdemokraten wollten in Deutschland ein ,Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit‘ errichten. Die Teilung unseres
Landes, der Stadt Berlin, deren Westteil er von 1957 bis 1966 regierte, empfand er immer als Unglück und nicht als das letzte Wort der Geschichte. Dieser Patriotismus war eingebettet in eine weltbürgerliche Ordnung, demokratisch-soziale Grundüberzeugungen von allgemeiner Gültigkeit. Heute, da die drückendsten Probleme der Menschheit globaler Art sind – die Umweltvergiftung, die Kriegs- und Bürgerkriegsgefahr (wenn auch in veränderter Gestalt), der Gegensatz zwischen Nord und Süd sowie der Umbruch im Osten, beides mit der Folge der Massenauswanderung, vor dem Hintergrund einer atemberaubenden Entgrenzung des Marktkapitalismus, den man ,Globalisierung‘ nennt -, ist es sicher gerechtfertigt, vor allem des internationalen Staatsmannes Willy Brandt zu gedenken. Als Vorsitzender der unabhängigen Nord-Süd-Kommission hat er ab Ende der 70er Jahre wegweisende Vorschläge für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ausgleich der beiden Hemisphären, der nördlichen und der südlichen gemacht, Vorschläge, die von der Regierungspolitik bis heute kaum aufgenommen worden sind.
Willy Brandts Name ist vor allem verbunden mit der Entspannung und Abrüstung,
insbesondere der Neuen Ostpolitik. Dafur bekam er 1971 den Friedensnobelpreis. Diese Ostpolitik hat auch nationale Ziele und Elemente, aber sie beruhte zugleich auf der Vorstellung, dass die alte Machtpolitik im Interesse des Überlebens der Menschheit neue, grundsätzlich friedliche, kooperative und solidarische Formen des Zusammenlebens zwischen Völkern und Staaten abgelöst werden müsse.
Das war nicht allein ein ideales Wunschbild, sondern als Zielvorstellung verbunden mit hohem Wirklichkeitssinn und dem Mut, Illusionen aufzugeben. Diese Verbindung von Vision und Realismus war m. E. bestimmend für die Neue Ostpolitik. Diese sollte einen Ausweg aus der gefährlichen Konfrontation der Machtblöcke weisen, friedliche Veränderungen ermöglichen, namentlich im Osten, und handgreifliche praktische Erleichterungen für die Menschen bringen. Wer diese Politik als eine der reinen Status-quo- oder Besitzstanderhaltung begreift, hat ihren Kern nicht verstanden.
Fragt man mich, was die Wirkung des Politikers Willy Brandt ausmacht, so
würde ich zwei Dinge hervorheben:
Erstens sein ausgeprägtes Gespür für politische, auch gesellschaftspolitische Prozesse. Es ist kein Zufall, dass er früher als andere, zumal in der eigenen Partei, den revolutionären Charakter der Systemkrise und der Volksbewegung in der DDR ab Sommer 1989 begriff. Seine politischen Konzepte waren stets offen genug angelegt, um sich durch solche Veränderungen modifizieren oder, wo erforderlich, revidieren zu lassen.
Zweitens nenne ich die Fähigkeit, ganz unterschiedliche Menschen und Menschengruppen
so anzusprechen, dass sie sich wirklich verstanden und vertreten fühlten. Er kam bei Betriebsräten gleichermaßen gut an wie bei Universitätsprofessoren oder jugendlichen Besuchern des Kirchentages.
So notwendig der nüchterne Blick und der Pragmatismus sind: Man muss die Menschen tief bewegen, wenn man die grundlegenden Probleme der Zeit lösen will, und man kann sie nicht bewegen, ohne ihre Hoffnungen und Sehnsüchte nach einer besseren Welt anzusprechen, ohne ihnen Zukunftsvisionen anzubieten, für die sich gemeinschaftlich zu arbeiten und vielleicht auch Opfer zu bringen lohnt. Und das vermisse ich.